Laute Leise Töne
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Laute Leise töne

Die Deep Thoughts der Ilgen-Nur

24/9/2019

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In leichten Wellen fielen Ilgen-Nur die Haare über die Schulter. Lässig zurück-gelehnt, saß
sie auf dem Stuhl in den Räumen ihres Managements, wo ich die New Comerin treffen
durfte, um über ihr Debütalbum Power Nap zu sprechen; In einer Hand eine selbst
gedrehte Zigarette, in der anderen eine Strähne. "Es ist einfach nur ein gutes Gefühl, dass
es jetzt draußen ist und man nicht mehr nervös darauf wartet oder noch einmal an Sachen
herumbastelt."
Wem dieser Name noch kein Begriff sein sollte, hat dringenden Nachholbedarf, denn wie
mehrere aktuelle Künstlerinnen auf der ganzen Welt, hat sie sich dazu entschlossen, ihren Teil zur Rettung der Indiemusik beizutragen und verleiht der mehrmals für Tod erklärten Gitarrenmusik eine sehr lebendige und innovative Seite.
​10 Songs zählt das Album, das mit markantem, klarem Stil und kohärenten Themen
auftritt, was bei einem Erstlingswerk bemerkenswert ist:
​"Das war eigentlich ein ziemlich organischer Prozess. Auf der EP war noch nicht so klar, wie sich die Musik entwickeln wird, aber für das Album habe ich mir auch zwei Jahre Zeit genommen, war viel auf Tour und habe so meinen Stil mehr und mehr gefunden, ohne darüber viel nachzudenken."
Die Songs schreibt sie für sich selbst, allein, im stillen Kämmerlein. An ihrer E-Gitarre fühlt
sich Ilgen-Nur am wohlsten, schreibt Notizen für Bass oder Klavier und präsentiert die
Songs erst ihrer Studioband, wenn sie diese auch sicher allein performen und
präsentieren kann. Erst dann wird gemeinsam an den Arrangements gearbeitet, doch
Melodie und Texte sind allein Ilgen's Werk und daher fix. "Meine Band ist super, aber ich
bin einfach zu sehr Kontrollfreak, um mit anderen zu schreiben."
In der letzten Woche folgte ein Interview auf das andere, zahlreiche Reviews erschienen,
langsam fällt der Druck von ihren Schultern, denn die Stimmen der Presse, sind
überwiegend positiv.
Dennoch hat mich meine Recherche der letzten Woche stutzig gemacht, denn kaum ein
Bericht kam ohne die Stichworte Slackerqueen, Coming of Age und Generation Z aus.
Aktiv oder bewusst hat Ilgen-Nur keine dieser Themen und Beschreibungen zu ihrer
künstlerischen Identität gemacht. Nachdem sie den ersten Begriff erst einmal
nachgeschlagen hat, konnte sie schon verstehen, woher es kommt "Ja ich schlafe viel und
mein Album heisst Powernap, aber so viel Faulheit kann man sich als junge Künstlerin
auch nicht leisten. Eigentlich finde ich, dass ich mich eher zum Workaholic entwickelt
habe."
Auch die andren beiden Charakterisierungen zeigen nur eine Facette der textlichen Welt,
der sich Ilgen-Nur widmet. Als Jahrgang 1996 teilt sie Probleme mit ihrer Geration und
befindet sich in einer Episode, die schnelllebig ist und in der sich viel verändert. Es ist nur
eine logische Konsequenz, dass sich dies auch in ihren Texten widerspiegelt, wobei ihr
Publikum von 14 an nach oben offen sehr durchmischt und divers ist.
Doch zu viel Zeit vor dem Handy zu verbringen ist eben nur eine Zeile und wird gefolgt von
kritischen, dunklen und düsteren Themen, die stärker in den Fokus gerückt werden sollten.
"Vielleicht haben die Leute Angst mit mir wirklich über die düsteren Texte zu sprechen,
obwohl ich da ganz klar sage was Sache ist!" Sie bezieht sich dabei auf TV, ein Song, der
auch in die Schublade Zeitvertreib und Prokrastination gelegt werden könnte, wäre da
nicht der scharfe Refrain: But I could be anyone | I could be having fun Come on, take me
out, take me out my own house

Generell öffnet sich die junge Musikerin in ihren Songs und präsentiert sich ehrlich und
ungefiltert. Mit wenigen lyrischen Schlenkern, malerischen Bildern und fiktiven Situationen
spricht sie von sich, ihrer Welt, ihren Problemen und Gedanken, ohne dabei sowohl ihr
Umfeld als auch die eigene Person vor Publikum zu kritisieren. "Ich schreibe kein
Tagebuch. Ich schreibe Songs", sagt sie mit einem durchdringenden Blick, der mir
verdeutlicht, dass ihr die Ehrlichkeit ihrer Texte viel bedeutet und es Mut verlangt vor so
vielen Menschen, Fehler einzugestehen, wie sie es in New Song II tut.
Gleichzeitig hilft der Prozess des Songwriting, Verhaltensweisen zu erkennen und
abzulegen.
Der ruhigste Song der Platte, der die Flucht in die Unerreichbarkeit, wenn die Dinge nicht
mehr so laufen, beschreibt - wir Millennials nennen das übrigens ghosten - zeigt eine
verwundbare und reuevolle Seite. Ein ziemlicher Arschlochmove, dem die meisten schon
einmal zum Opfer geworden sind, alles in allem aber mehr Verdrängung als eine bewusste
Entscheidung ist.
​Gleichzeitig sieht sich Ilgen-Nur anderen Phänomenen der Schnelllebigkeit ausgesetzt.
"Man verpasst einfach immer etwas. Irgendein Freund ist immer in einer Bar oder auf einer
Party und es ist schwer geworden alleine zu sein, obwohl ich das immer viel und auch
gerne war.“
Mittlerweile hat sich ihr Lebensmittelpunkt nach Berlin verschoben, wo die ruhigen Minuten
immer weniger werden. Doch gerade die Melancholie ist die größte Inspirationsquelle,
weshalb Phasen von Glück und Zufriedenheit die Musikerin eher nervös machen:
"Worüber soll ich denn jetzt schreiben?!" Kein Wunder, dass die Lethargie in jedem Song
mitschwingt und der entspannte, faule Slackerlifestyle letztlich von der Ernsthaftigkeit mit
der sie über ihre Deep Thoughts und die Einsamkeit zerschlagen wird.
Bereits auf der EP brachte Ilgen mit No Emotions einen Song voller Wut und
Empowerment raus, der hinter dem Wirbel um ihre Person, ihre Herkunft, ihrem
Geschlecht und ihre Coolness unterging.
"Wieso müssen meine türkischen Wurzeln, denn schon immer im zweiten Satz erwähnt
werden?! Meine Musik ist kein bisschen davon beeinflusst, es ist zu hundert Prozent
amerikanische, britische Indiemukke."
Der Fokus hat sich ziemlich auf die Persona Ilgen-Nur verlagert, anstatt die tollen
Basslines zu thematisieren, die In My Head erst besonders machen, ihre gesanglichen
Qualitäten herauszuarbeiten, die im Indierock durchaus keine Voraussetzung sind oder
den Mut ihrer Worte, wert zu schätzen.

In den kommenden Monaten könnt ihr Ilgen-Nur auf einer großen Tour erleben, auf der auch einige internationale Locations besucht werden.
Doch nun wird erst einmal genau hingehört und Power Nap in allen Einzelheit, Facetten und Momenten aufgesogen. Kommt, wir wälzen uns in der Melancholie, um dann gestärkt wieder hervorzugehen - sollte das nicht der Grund für Musik sein?!

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